Flüchtlingsabkommen schon halb ausgesetzt
Ankara droht: Entweder Visafreiheit bis Oktober oder Ende des Flüchtlingsabkommens mit der EU. Die Rücknahme von Flüchtlingen hat Ankara vorerst schon einmal gestoppt. Brüssel und Berlin wollen sich von Ankara nicht erpressen lassen. Aber Griechenland fürchtet die nächste Flüchtlingsflut und fordert einen europäischen Plan B und konsequente Umverteilung von Migranten auf ganz Europa.
Ankara droht Europa

Flüchtlingsabkommen schon halb ausgesetzt

Ankara droht: Entweder Visafreiheit bis Oktober oder Ende des Flüchtlingsabkommens mit der EU. Die Rücknahme von Flüchtlingen hat Ankara vorerst schon einmal gestoppt. Brüssel und Berlin wollen sich von Ankara nicht erpressen lassen. Aber Griechenland fürchtet die nächste Flüchtlingsflut und fordert einen europäischen Plan B und konsequente Umverteilung von Migranten auf ganz Europa.

Nach der von der Türkei angedrohten Aufkündigung des Flüchtlingspaktes hat die griechische Regierung einen Alternativplan gefordert. Die EU müsse sich Gedanken machen für den Fall, dass die Türkei ihre Grenzen wieder öffne, sagte Migrationsminister Yiannis Mouzalas der Bild-Zeitung. „Wir sind sehr beunruhigt. Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B”, so Mouzalas. Es liege auf der Hand, dass bei einem möglichen Bruch der Vereinbarungen seitens der Türkei „sämtliche Planungen der EU komplett geändert werden müssten”, ergänzte der Sprecher des griechischen Stabes für die Flüchtlingskrise, Giorgos Kyritsis, gegenüber der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel.

Kein Plan B

Der EU-Flüchtlingspakt sieht vor, dass illegal in Griechenland eingereiste Flüchtlinge und Migranten zurück in die Türkei geschickt werden. Für jeden zurückgeschickten syrischen Flüchtling darf seit dem 4. April ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen. Bis zu 72.000 Menschen könnten auf diese Weise Aufnahme in Europa finden. Für das Abkommen erhält Ankara von der EU unter anderem sechs Milliarden Euro, von denen knapp drei schon geflossen sind. Noch scheint das Abkommen zu halten: Seit Dienstag wurden auf den griechischen Ägäis-Inseln nur 119 neu angekommene Migranten registriert. Was in Athen die Sorge nicht beseitigt. Kyritsis: „Wir wären töricht, wenn wir nicht besorgt wären.”

Die Verteilung von ankommenden Migranten auf alle EU-Staaten hätte auf die Migranten sofort einen neuen hohen Anziehungseffekt.

Interessant: Die Athener Forderung wird offenbar in Berlin ablehnend betrachtet. Entscheidend für das Sinken der Flüchtlingszahlen sei es, neben dem Pakt mit der Türkei und der Schließung der Balkanroute, eben auch, „den Anziehungseffekt vor allem Deutschlands zu verringern“, erläuterte der EU-Obmann der Unions-Bundestagsfraktion, Detlef Seif. Die von Athen ebenfalls geforderte sofortige Verteilung von ankommenden Migranten auf alle EU-Staaten sei darum der falsche Weg. Denn das hätte auf die Migranten sofort „einen neuen hohen Anziehungseffekt“, so Seif.

Die Kommission hat einen Plan A und der besteht darin, den EU-Türkei-Deal zum Erfolg zu führen.

EU-Kommission

Zum Teil ähnlich sieht es die EU-Kommission, die die griechische Forderung ebenfalls zurückwies. „Die Kommission hat einen Plan A und der besteht darin, den EU-Türkei-Deal zum Erfolg zu führen“, sagte eine Sprecherin in Brüssel. Zudem sei das Abkommen mit der Türkei nur ein Teil der europäischen Antwort auf die Flüchtlingskrise. Dazu gehörten genauso die Umverteilung von Flüchtlingen auf andere EU-Staaten, Finanzhilfen, das Projekt einer europäischen Grenz- und Küstenwache und viele weitere Maßnahmen.

Türkisches Visa-Ultimatum

Die Athener Sorgen bleiben allerdings allzu berechtigt. Denn in der gereizten Atmosphäre nach den Putschwirren und mitten in Präsident Recep Erdogans großer politischer Säuberung in Militär, Justiz und Presse hatte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu zuvor den Flüchtlingspakt zwischen der EU und seinem Land infrage gestellt und ultimativ die im EU-Flüchtlingspakt ebenfalls in Aussicht gestellte Visumfreiheit für Türken gefordert. Cavusoglu warnte, dass seine Regierung einen konkreten Termin Visa-Liberalisierung erwarte: „Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein – aber wir erwarten ein festes Datum.” Und fügte drohend hinzu: „Wenn es nicht zu einer Visa-Liberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen.“

Wenn es nicht zu einer Visa-Liberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen.

Außenminister Mevlüt Cavusoglu

Die explizite Drohung kam denn auch in Brüssel und Berlin als klare Drohung an − und führte umgehend zu deutlichen Repliken. Die Bundesregierung betonte, man werde über einen konkreten Zeitpunkt für die Visumfreiheit erst sprechen, wenn Ankara alle Voraussetzungen erfüllt habe. Die EU-Kommission vertritt dieselbe Linie. Brüssel hat die Aufhebung der Visumpflicht bisher nicht zugesagt, weil Ankara nicht alle 72 Bedingungen dafür erfüllt hat. Einer der wichtigsten Punkte ist die Entschärfung der türkischen Anti-Terrorgesetze, die nicht mehr gegen Oppositionelle und Journalisten angewandt werden sollen. Das aber erschien angesichts der Lage nach dem Putschversuch in der Türkei unwahrscheinlich.

Empörung in Berlin

Die Antwort auf die aggressiven Töne aus Ankara kam prompt: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sieht erst einmal Ankara am Zug. „Es gibt Bedingungen für die Visafreiheit, und diese sind allen Seiten bekannt”, sagte der SPD-Politiker der Rheinischen Post. Die Türkei habe da „noch Arbeit vor sich”. Es bringe jetzt nichts, „sich gegenseitig Ultimaten zu stellen und zu drohen”, fügte er hinzu. „In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen”, warnte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ähnlich äußerte sich auch CDU-Vize Thomas Strobl auf das Ultimatum des türkischen Außenministers: „So haben Staaten nicht miteinander umzugehen.”

Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, verlangte, das Terrorismusbekämpfungsgesetz in der Türkei, das zunehmend dazu missbraucht werde, unliebsame Personen und Andersdenkende zu verfolgen, müsse revidiert werden. Zugleich warnte er Ankara vor möglichen Nachteilen. „Mit derlei Drohungen setzt die Türkei weitaus mehr aufs Spiel als ein Flüchtlingsabkommen”, sagte der CDU-Politiker unter Verweis auf die Milliarden-Zahlungen der EU zur Verbesserung der Flüchtlingsinfrastruktur in der Türkei.

Präsident Erdogans Wut

Der Zorn in Ankara wird genährt durch weitere, fast schon persönliche Erbitterung Präsident Erdogans über Berlin. Am Montag wurde der deutsche Gesandte Robert Dölger ins Außenministerium einbestellt − aus Protest dagegen, dass Erdogan am Wochenende nicht per Videoschalte zu seinen Anhängern in Köln hatte sprechen dürfen. Dölger sei dargelegt worden, ein solches Verhalten eines „Verbündeten” sei „inakzeptabel”. Die „Enttäuschung und Verärgerung” der Türkei sei „eindringlich” zum Ausdruck gebracht worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montagabend weiter.

Aus Furcht vor einem Überschwappen des innertürkischen Konflikts nach Deutschland wurde die Übertragung von Erdogans Rede nach Köln vom Bundesverfassungsgericht verboten.

Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok warf dem türkischen Präsidenten daraufhin fehlendes Verständnis für Rechtsstaatlichkeit vor. Auch Erdogan müsse akzeptieren, dass es in Deutschland Gerichte gebe, die über der Politik stünden, sagte Brok den Ruhr Nachrichten. Bei der Kölner Demo hatten am Sonntag bis zu 40.000 Menschen ihre Unterstützung für Erdogan und seine Politik gezeigt. Die EU und die Bundesregierung sind dagegen besorgt über die Entlassung von Zehntausenden Staatsbediensteten und die Festnahme von fast 19.000 mutmaßlichen Regierungskritikern in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch vor gut zwei Wochen. Aus Furcht vor einem Überschwappen des innertürkischen Konflikts wurde die Übertragung von Erdogans Rede nach Köln letztlich vom Bundesverfassungsgericht verboten.

Flüchtlingsabkommen schon halb suspendiert

Zurück zur Lage in Griechenland. Das Schengenland ohne sichere Schengen-Außengrenze wird nach einem Bericht der Bild-Zeitung (Dienstag) von den anderen EU-Staaten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise derzeit weit weniger unterstützt als versprochen. Bisher seien nur 66 von 1580 zugesagten Frontex-Beamten nach Griechenland entsandt worden, berichtete das Blatt unter Berufung auf die EU-Kommission. Zudem seien nur zwei von 60 angeforderten Rücküberführungsexperten, 92 von 475 zugesagten Asyl-Experten und 61 von 400 versprochenen Dolmetschern geschickt worden. Von 30 Juristen, die zugesagt wurden, sei noch kein einziger im Land angekommen.

Die Folge sei, dass die Asylverfahren entsprechend zögerlich abgeschlossen würden und nur wenige Flüchtlinge bisher das Land verlassen konnten. Seit Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der Türkei und der EU am 18. März seien erst 849 Flüchtlinge von Griechenland in andere EU-Länder umgesiedelt und 468 im 1:1-Verfahren in die Türkei zurück geschickt worden.

Weil alle türkischen Beamten abgezogen wurden, stocken die Migrantenrückführungen.

Nach Angaben der griechischen Regierung hielt die Türkei bisher das Flüchtlingsabkommen noch ein. Oder auch nicht: Tatsächlich ist das Flüchtlingsabkommen schon halb suspendiert. Denn Ankara nimmt zur Zeit keine Flüchtlinge mehr zurück. Der Grund: Nach dem Putsch seien seit dem 21. Juli alle türkischen Beamten aus Griechenland abgezogen worden, sagte der Deutschen Presse-Agentur ein Offizier der Küstenwache. Diese türkischen Regierungsvertreter entscheiden, wann und wie viele Migranten in die Türkei zurückgeschickt werden. (dpa/H.M.)