Europäer gegen EU-Migrantenpolitik
Überall in Europa wächst die EU-Skepsis – und Brüssels Umgang mit dem Flüchtlingsthema ist eine entscheidende Ursache dafür. Das ist ein Ergebnis einer Umfrage in zehn großen Ländern der EU. Außerdem: Nirgendwo gibt es eine Mehrheit für die „immer engere Union“ mit mehr Kompetenzen für die Kommission – im Gegenteil. Die größten EU-Gegner: die Griechen.
EU in der Krise

Europäer gegen EU-Migrantenpolitik

Überall in Europa wächst die EU-Skepsis – und Brüssels Umgang mit dem Flüchtlingsthema ist eine entscheidende Ursache dafür. Das ist ein Ergebnis einer Umfrage in zehn großen Ländern der EU. Außerdem: Nirgendwo gibt es eine Mehrheit für die „immer engere Union“ mit mehr Kompetenzen für die Kommission – im Gegenteil. Die größten EU-Gegner: die Griechen.

Die Flüchtlingspolitik der EU macht böses Blut – überall in der Europäischen Union. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center über „Euroskepsis über den Brexit hinaus“. Die Forscher des in Washington ansässigen Instituts haben dazu vom 4. April bis zum 12. Mai 10.491 EU-Bürger in zehn Ländern befragt, die zusammen 80 Prozent der EU-Bevölkerung und 82 Prozent der EU-Wirtschaft stellen: Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlande, Polen, Schweden, Spanien und Ungarn.

Die Umfrageergebnisse werden unter EU-Funktionären die Sorgen verstärken, dass der Brexit in anderen europäischen Ländern, in denen populistische Parteien ebenfalls an Schwung gewinnen, einen Massensturm auf ähnliche Referenden auslösen könnte.

Financial Times

In allen untersuchten Ländern lehnen überwältigende Mehrheiten „die Art und Weise wie die Europäische Union mit dem Flüchtlingsthema umgeht“ ab. Spitzenreiter ist dabei  Griechenland mit 94 Prozent, gefolgt von Schweden (88%) und Italien (77%). Noch am mildesten fällt die Ablehnung in Deutschland (67%) und den Niederlanden (63%) aus. Aber selbst in den Niederlanden beträgt die Zustimmung zur EU-Migrantenpolitik nur dürftige 31 Prozent, in Deutschland und Frankreich sind es jeweils nur 26 Prozent. Wer annimmt, dass die Europäer eine Brüsseler Politik der offenen EU-Außengrenzen nicht wollen, liegt wohl richtig.

Flüchtlingskrise schadet der EU

Ein großes Maß der Unzufriedenheit der Europäer mit der EU kann auf Brüssels Umgang mit dem Flüchtlingsthema zurückgeführt werden. In allen untersuchten Ländern lehnen überwältigende Mehrheiten ab, wie Brüssel das Problem behandelt hat.

Pew Research Center

Das Ergebnis wird noch klarer, wenn man es neben eine Graphik hält, die die Zustimmung der Bevölkerung zur EU über Jahre hinweg darstellt: In vielen der untersuchten Ländern ist die Zustimmung zur EU seit 2014 und vor allem seit 2015, dem Jahr der großen Völkerwanderung über die Balkanroute, auf Tiefstwerte abgestürzt: In Italien von knapp 70 auf jetzt 58 Prozent, in Deutschland seit 2014 von 70 auf 50 Prozent. In Frankreich fiel der Wert in einem Jahr von 55 auf heute 38 Prozent, in Großbritannien von 51 auf 44 und in Spanien von 63 auf 47 Prozent. Unverändert hoch geblieben sind im vergangenen Jahr die Werte beim EU-Zustimmungsspitzenreiter Polen (72), das sich die Flüchtlingskrise vom Hals halten konnte. Platz Zwei auf dem Pew-Zustimmungsranking belegt mit 61 Prozent Ungarn, das den Migranten erfolgreich den Weg ins Land versperrt hat.

Erbittertste EU-Gegner: die Griechen

„Überall in Europa wächst die Euroskepsis“, schreiben die Pew-Forscher. Die erbittertsten EU-Gegner sind – Brexit-Debatte hin oder her – allerdings nicht die Briten sondern mit lediglich 27 Prozent Zustimmung ausgerechnet die Griechen (2012: 37%), die ein halbes Dutzend EU-Rettungspakete über eine inzwischen hohe dreistellige Milliardensumme offenbar wenig beeindruckt oder für die EU eingenommen hat. Sichtbar wird auch, dass in allen untersuchten Ländern die Zustimmung zur EU seit Beginn der Befragungen 2004 oder 2006 von einst hohen Werten dramatisch zurückgegangen ist. „Die Ergebnisse werden unter EU-Funktionären die Sorgen verstärken, dass der Brexit in anderen europäischen Ländern, in denen populistische Parteien ebenfalls an Schwung gewinnen, einen Massensturm auf ähnliche Referenden auslösen könnte“, kommentiert die Londoner Tageszeitung The Financial Times.

Kluft zwischen jung und alt

Ein Hoffnungsschimmer für Brüssel: Die Pew-Umfrage zeigt auch, dass jüngere Leute die EU positiver sehen als ältere. In Frankreich ist die Kluft mit 25 Prozentpunkten am größten: 56 Prozent der 18 bis 34-Jährigen sehen die EU positiv, aber nur 31 Prozent der über-50-Jähringen – die französischen 35 bis 49-Jährigen sehen mit 33 Prozent Zustimmung die EU allerdings auch nicht wirklich besser. In Großbritannien beträgt diese Kluft zwischen jung und alt 19, in den Niederlanden 16, in Polen und Deutschland 14 und in Griechenland 13 Prozentpunkte. In Italien, das unter 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit leidet, verhält es sich umgekehrt: Die Jungen sehen mit einem Prozentpunkt Unterschied die EU negativer als die Älteren.

Hohe Staatsschulden, hohe Ablehnung

Allgemein groß ist die Unzufriedenheit der befragten EU-Bürger auch mit der „Art und Weise wie die EU wirtschaftliche Fragen behandelt“. Zumindest an der Spitze entspricht die Pew-Unmutsskala exakt der Abfolge der EU-Schuldenländer nach ihrem Schuldenstand: Je höher die Staatsschulden, desto heftiger die Ablehnung der EU-Wirtschaftspolitik. Man ahnt, was sich in den Schuldenländern viele Befragten wünschen: die Vergemeinschaftung ihrer Schulden. An der Spitze liegen denn auch die Griechen, die mit 92 Prozent die EU-Wirtschaftspolitik ablehnen, gefolgt von Italien (68), Frankreich (66) und Spanien (65). Auch 55 Prozent der Briten und 49 Prozent der Niederländer lehnen die EU-Wirtschaftspolitik ab. Bei den Deutschen sind es nur 38 und bei den Polen nur 33 Prozent. Beunruhigend: In keinem der untersuchten Länder ist eine absolute Bevölkerungsmehrheit zufrieden mit der EU-Wirtschaftspolitik.

Geht die europäische Lovestory zuende?

Interessant: Zustimmung oder Ablehnung für die EU ist keine Frage von politisch rechts oder links. In einigen Ländern ist die Euroskepsis auf dem rechten Flügel zuhause, in anderen Ländern auf dem linken. In Großbritannien befürworten 69 Prozent der Linkswähler die EU, aber nur 38 Prozent der Wähler im bürgerlichen Lager – eine Kluft von 31 Prozentpunkten. In Italien beträgt diese Differenz zwischen linkem und bürgerlichem Lager 23, in den Niederlanden 16 und in Deutschland 12 Prozentpunkte. In Frankreich ist die Kluft mit zwei Prozentpunkten fast geschwunden. In Griechenland, Schweden und Spanien liegen die Verhältnisse genau umgekehrt: mit neun, 16 und 24 Prozentpunkten Differenz überflügeln hier die Linken bei der EU-Kritik das rechte Lager.

In entscheidenden europäischen Ländern erheblicher Widerstand gegen eine immer engere Union

Pew Research Center

Wenn der Kommission in Brüssel daran gelegen ist, den EU-Unmut nicht weiter steigen zu lassen, dann sollte sie dieses Umfrageergebnis besonders interessieren: Von der „immer engeren Union“ aus den Römischen Verträgen von 1957 wollen die EU-Bürger mit überwiegender Mehrheit nichts mehr wissen. In keinem der untersuchten Länder plädiert auch nur ansatzweise eine Mehrheit der Bürger dafür, weitere Kompetenzen an Brüssel zu übertragen. In Großbritannien wollen das nur sechs Prozent, in Griechenland acht und sogar bei den polnischen EU-Fans nur neun Prozent. In Frankreich nicken dazu immerhin 34 und in Spanien 30 Prozent der Wähler. In allen Ländern wollen relative oder absolute Mehrheiten zwischen 35 (Spanien) und 68 Prozent (Griechenland) just das Gegenteil und der EU Kompetenzen wieder abnehmen. Glasklare absolute Mehrheiten von mindestens 62 Prozent (Spanien) wollen in allen Ländern mindestens den Status quo  erhalten und auf keinen Fall Brüssels Kompetenzen erweitern, sondern eben Kompetenzen zurückholen. Keine Überraschung: In Großbritannien sehen das 90 Prozent der Wähler so.

Kein Kompetenz-Zuwachs für Brüssel

Insgesamt wollen 42 der befragten Europäer politische Kompetenzen von Brüssel zu den nationalen Hauptstädten zurück verlagert sehen, 27 Prozent plädieren in der Frage für den Status quo und nur 19 Prozent wollen Brüssel zusätzliche Kompetenzen geben. Und hier liegt vielleicht der ernsteste Befund der Pew-Studie: Die Mehrheit der Europäer hat sich von der Vision von der „immer engeren Union” verabschiedet. Die europäische Lovestory geht zu Ende oder hat jedenfalls das Zuneigungsmaximum erreicht. Als „Prozess” haben EU-Experten und Politiker die EU gerne beschrieben. Aber es wird eben immer schwieriger, diesen Prozess fortzuschreiben. Immer mehr Menschen gehen nicht mehr mit. Müssen die Europäer ihre Europäische Union auf eine ganz neue Basis stellen?

Die Mehrheit fürchtet den Brexit

Überall wächst der Unmut an der EU. Trotzdem gibt es nirgends eine Mehrheit von Wählern, die den Brexit – den Ausstieg Großbritanniens aus der EU – befürworten würde. Im Gegenteil: 70 Prozent aller Befragten würden den Abschied der Briten als schädlich betrachten, nur 16 Prozent würden ihn positiv sehen. In Schweden, das wie Großbritannien der gemeinsamen Euro-Währung fern geblieben ist, lehnen 89 Prozent der Befragten den Brexit als „schlechte Sache“ ab, in den Niederlanden 75 und in Deutschland 74 Prozent. Aufschlussreich: In Frankreich und in Italien finden sich mit 32 und 23 Prozent noch die meisten Brexit-Befürworter. Das sind die beiden größten Länder der EU-Südflanke, die ohne Großbritannien möglicherweise ein größeres Gewicht erhielte. Soviel ist sicher: Wenn sich die Briten am 23. Juni für den Brexit entscheiden, werden sehr viele Europäer darüber nachdenken, welche negativen Folgen das für sie hat und wie sie darauf reagieren sollen. Auf Brüssel kämen unruhige Zeiten zu.