Die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses des Bundestags, Dagmar Wöhrl. (Bild: Imago/Ch. Thiel)
Dagmar Wöhrl

Libysche Schlepper reiben sich die Hände

Interview Im Gespräch mit dem BAYERNKURIER spricht die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses im Bundestag, Dagmar Wöhrl, über die aktuellen Entwicklungen in Libyen. Diese würden oftmals durch den Syrien-Krieg in den Hintergrund gedrängt, sagt die CSU-Politikerin. Dennoch könnte das Land der nächste Schlüsselstaat bei der Fluchtbewegung werden.

Frau Wöhrl, das Wetter in der Mittelmeerregion wird besser – dadurch gerät die Flüchtlingsroute über Libyen wieder verstärkt ins Visier. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?

In den nächsten Monaten droht ein neuer Flüchtlingsansturm aus Libyen. Das Land stellt – meiner Einschätzung nach – aber auch noch bei einem anderen Thema eine große Herausforderung für uns dar, das bislang zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Der IS breitet sich in Libyen immer stärker aus. Hier entsteht eine sehr gefährliche Situation und wir sollten inzwischen gelernt haben, dass Nachlässigkeiten heute, unsere Probleme von morgen sind.

Der IS breitet sich in Libyen aus.

Dagmar Wöhrl

Lassen Sie uns zuerst über das Thema Flüchtlinge sprechen.

Wir wissen, dass an der Küste Libyens schon jetzt zwischen 200.000 und 300.000 Menschen zur Überfahrt nach Europa bereit stehen. Manche Quellen sprechen von bis zu einer halben Million. Dazu muss man sehen, dass nach dem Abkommen der EU mit der Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland, die Route über die Ägäis für die meisten Flüchtlinge kaum noch in Frage kommen wird. Die Schlepper werden neue Wege suchen und die Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten nach Europa wird sich darum wieder verstärkt über das Mittelmeer verlagern. Libyen hat bislang keine gefestigten staatlichen Strukturen und es hat sich dort ein starkes Netzwerk für Schlepper und Menschenhändler herausgebildet. Die reiben sich schon die Hände, aber das müssen wir unterbinden.

Mit den staatlichen Strukturen sprechen Sie die bislang immer noch nicht handlungsfähige Einheitsregierung an?

Genau. Unter der Vermittlung der Vereinten Nationen ist es nach zähen Verhandlungen zwar gelungen, eine Einheitsregierung in Libyen zu formen. Die kann ihre Arbeit aber noch immer nicht richtig aufnehmen, weil man sich in Libyen noch nicht von allen Seiten auf eine abschließende Zustimmung für die Regierung verständigen konnte. Es fehlt also die berühmte „eine Telefonnummer“, die man anrufen kann, um praktisch Probleme anzugehen.

Von der Handlungsfähigkeit der Einheitsregierung hängt aber fast alles in Bezug auf Libyen ab?

Eine handlungsfähige und allseits anerkannte Einheitsregierung für Libyen ist in vielerlei Hinsicht ganz zentral. Sozusagen die entscheidende Variable. Wir wollen Libyen entwicklungspolitisch helfen, aber dafür brauchen wir Sicherheit im Land. Libyen ist durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre stark gezeichnet. 2,4 Millionen Menschen sind auf internationale Hilfe angewiesen. Das sind 35 Prozent der Bevölkerung des Landes. Es gibt 430.000 Binnenvertriebene. Bislang unterstützt das Entwicklungsministerium das „Resilience Programming for Children“ über das Kinderhilfswerk UNICEF, wo für 60.000 libysche Kinder und Flüchtlingskinder Bildungsmaßnahmen und psychosoziale Betreuung bereitgestellt werden. In Bengasi zum Beispiel können mehr als zwei Drittel der Schulen wegen der Sicherheitslage gar nicht mehr öffnen. Wir müssen unbedingt verhindern, dass in Libyen eine „lost generation“, eine verlorene Generation entsteht, wie es in Syrien geschehen ist. Die Sicherheitslage vor Ort schränkt die Möglichkeiten aber sehr stark ein. Jeder Entwicklungsfortschritt dort ist eng an die Frage der Sicherheit geknüpft.

Wir müssen unbedingt verhindern, dass in Libyen eine ‚Lost Generation‘ wie in Syrien entsteht.

Libyen war ja vor dem Beginn der Gewalt kein armer Staat. Welches wirtschaftliche Potenzial ist Ihrer Ansicht nach für den Wiederaufbau heute noch vorhanden?

Ein wichtiger Aspekt für die wirtschaftliche Entwicklung Libyens ist, dass die Ölförderung im Land wieder voll in Gang kommen kann. Die ist von ursprünglich 1,6 Millionen Barrel auf aktuell rund 350.000 Barrel am Tag gefallen. Im Moment werden die Zentralbank und die nationale Ölgesellschaft von konkurrierenden Kräften aufgerieben. Es wird nur ein geringer Teil des Potenzials ausgeschöpft.

Sie haben das Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei erwähnt. Wäre das denn auch ein Modell für die Zusammenarbeit zwischen der EU und Libyen, wenn sich die Regierung dort stabilisiert?

Wenn das Modell mit der Türkei Erfolg hat, muss man natürlich schauen, welche Lehren daraus für Libyen gezogen werden können. Klar ist, dass man es aber noch nicht eins zu eins auf Libyen übertragen kann. In Libyen fehlen die Voraussetzungen für die rechtliche und praktische Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Bis das Land ein Niveau an Sicherheit und an Rechtsstaatlichkeit erreicht, damit es auch die Kriterien als „sicherer Drittstaat“ erfüllen kann, ist noch sehr viel zu tun. Mit unserer Entwicklungszusammenarbeit wollen wir auch helfen, demokratische staatliche Strukturen aufzubauen.

Bis Juli soll die neue EU-Grenzschutzbehörde aufgebaut sein. Entstehen damit neue Chancen?

Da liegen durchaus Chancen. Auch wenn Italien die meisten Flüchtlinge, die von Libyen aus starten, abbekommen wird, ist es ein gesamteuropäisches Problem. Hier müssen alle Möglichkeiten der Kooperation mit der libyschen Regierung ausgelotet werden. Dafür brauchen wir dort aber in erster Linie handlungsfähige und starke Partner. Das gilt auch für die EU-Mission Sophia, die bislang nicht in den libyschen Küstengewässern einschreiten darf. Um die Schlepper aber wirksam bekämpfen zu können, muss man genau dorthin. In einem weiteren Schritt, der geplanten Phase III, dann auch an Land. Dafür braucht es auch eine enge Zusammenarbeit mit der libyschen Polizei. Um demokratische Polizeikräfte aufzubauen, müssen wir auch über eine EU-Polizeimission nachdenken.

Stichwort Sicherheit. Der IS kontrolliert jetzt schon 300 Kilometer an der Küste Libyens und 200 Kilometer im Landesinneren. Auch die Ölfelder sind in Gefahr, vom IS übernommen zu werden.

 Ja, die Ausbreitung des IS in Libyen ist erschreckend. Ohne die Herstellung von Sicherheit wird es in Libyen keine Entwicklung geben. Das kann ich immer wieder nur betonen. Nachdem es der internationalen Anti-IS Koalition gelungen ist, das Terrornetzwerk in Syrien und im Irak in manchen Regionen zurückzudrängen, sucht der IS jetzt in Libyen ein neues Rückzugsgebiet. Es gibt klare Anzeichen dafür, dass bereits ein Teil der Führungsriege der Terroristen in Libyen ist. In Libyen entsteht damit auch ein unmittelbares Sicherheitsrisiko für Europa. Die Anschläge von Brüssel haben uns einmal mehr auf schmerzhafte Weise gezeigt, wie wichtig es ist, dem Terrornetzwerk keinen Rückzugsraum zu lassen, wo es sich formieren und neue Attentäter für Terrorakte in Europa ausbilden kann.

Die Stabilisierung Libyens ist eine Herkulesaufgabe.

Die deutsche Verteidigungsministerin hat sich bereit erklärt, mit der Bundeswehr in Libyen bei einer Ausbildungs- und Stabilisierungsmission zu helfen.

Wir werden prüfen müssen, welche Rolle wir mit der Bundeswehr bei der Herstellung von Sicherheit im Land übernehmen können. Besonders der Aufbau und die Ausbildung einer libyschen Armee werden wichtig sein, damit die Regierung Libyens im ganzen Land für Sicherheit sorgen kann und dem IS die Grundlage entzogen wird, von libyschem Territorium aus zu agieren.

Das wird bei der sicherheitspolitischen Zerklüftung Libyens mit den zahlreichen Milizen und Gruppierungen, die das Land kontrollieren, aber kein einfaches Unterfangen.

Nein. Die Stabilisierung Libyens ist eine sehr große Herausforderung. Eine Herkulesaufgabe. Zunächst einmal ist es ganz wichtig, dass es ein Sicherheitsabkommen zwischen den zahlreichen Akteuren im Land gibt, damit man sich gemeinsam auf den Kampf gegen den IS konzentrieren kann. Von der Ausbreitung des IS geht ja auch eine Gefahr für die Destabilisierung der ganzen Region aus. Das dürfen wir nicht unterschätzen. Im Osten Richtung Ägypten, das schon auf dem Sinai mit erstarkendem IS-nahen Terrorismus zu kämpfen hat. Eine Destabilisierung Ägyptens mit seinen fast 90 Millionen Einwohnern wäre für Europa eine Katastrophe. Im Westen Richtung Tunesien, wo der IS erst kürzlich mit dem Überfall auf die Grenzstadt Ben Gardane seine Handlungsfähigkeit demonstriert hat. Und im Süden besteht die akute Gefahr, dass sich der IS im Niger und im Tschad mit Boko Haram zusammen tut. Das passiert alles in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Vor unseren Augen.

Angesichts der zahlreichen Herausforderungen, die mit Libyen verbunden sind: Schenken deutsche Politiker und die Öffentlichkeit dem Thema genügend Aufmerksamkeit?

Ich denke, an einigen Stellen wurde das Problem erkannt und es wird auch gehandelt. Wegen der Syrien-Krise und der Entwicklungen im Nahen Osten tritt Libyen aber doch stark in den Hintergrund und erfährt auch medial bislang nicht die gebotene Aufmerksamkeit. Wir müssen der deutschen Öffentlichkeit aber ganz deutlich klarmachen: Direkt gegenüber von Europa gibt es ein großes Problem. Und das müssen vor allem wir als Nachbarn, aber auch als unmittelbar Betroffene der Auswirkungen mit größter Dringlichkeit und dem gebotenen Engagement lösen.