Die Verteilung der Flüchtlinge soll in Europa gerechter geregelt werden. (Bild: Fotolia/cevahir87)
Stoiber-Kolumne

2016 ist ein Schicksalsjahr für Europa

Kolumne Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Bayerns langjähriger Ministerpräsident und CSU-Ehrenvorsitzender Edmund Stoiber spricht in seiner Kolumne über die großen Herausforderungen für Europa in diesem Jahr. Dabei erklärt er, warum ein Verbleib Großbritanniens in der EU für alle Seiten wichtig ist, und warum nationale Maßnahmen in der Flüchtlingsproblematik dringend erforderlich sind.

In diesem Jahr werden die Weichen für eine Stabilisierung oder eine Beschädigung der Europäischen Union gestellt. Das Fundament der EU droht brüchig zu werden. Daran ist nicht nur die Belastungsprobe durch den Flüchtlingsansturm aus dem Nahen Osten schuld. Auch der mögliche Austritt Großbritanniens, der sogenannte Brexit, lässt viele Europäer den Schweiß auf die Stirn treten. Zu Recht! Sollten die Briten in einem Referendum mehrheitlich gegen den Verbleib des Landes in der EU stimmen, wäre das ein fatales Signal für Europa. Es wäre ein klares Zeichen, dass die Idee des europäischen Einigungsprozesses einen Rückschlag erlitten hat. Und Deutschland wäre ein großer Verlierer eines Austritts, sowohl wirtschaftlich wie auch politisch. Deshalb sollte gerade aus deutscher Sicht alles daran gesetzt werden, Großbritannien in der EU zu halten.

 

Großbritannien ist gerade für Bayern und Deutschland ein wichtiger Verbündeter in grundsätzlichen europapolitischen Fragen.

 

Großbritannien war noch nie ein besonders bequemer Partner für Europa. Seit dem Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft am 1. Januar 1973 gab es dort eine starke europaskeptische Strömung, die eine politische Vertiefung strikt ablehnte, soweit sie über wirtschaftspolitische Maßnahmen hinausging. Unvergessen ist die Forderung von Margaret Thatcher 1984: „I want my money back!“, mit deren Hilfe der sogenannte „Briten-Rabatt“ durchgesetzt wurde. Einen Sonderweg ist das Vereinigte Königreich auch mit den „opt-out“-Klauseln, also einem zulässigen Fernbleiben beim Schengensystem und dem Euro gegangen.

Dennoch: Großbritannien ist gerade für Bayern und Deutschland ein wichtiger Verbündeter in grundsätzlichen europapolitischen Fragen. So haben sich beide Staaten immer gegen zu viele Kompetenzen für Brüssel und für die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzips in Europa ausgesprochen. Auch die ausgeprägte marktwirtschaftliche Orientierung und der Widerstand gegen einen überzogenen Staatsdirigismus werden von beiden Seiten geteilt. Großbritannien hat sich stets mit deutlichen Worten gegen eine bürokratische Gängelung der Unternehmen ausgesprochen, wofür ich als Vorsitzender der High-Level-Group immer sehr dankbar war.

 

In einem Europa ohne Großbritannien könnte schnell ein südeuropäisch-sozialistisch geprägter Ansatz Oberhand gewinnen.

 

In einem Europa ohne Großbritannien könnte schnell ein südeuropäisch-sozialistisch geprägter Ansatz Oberhand gewinnen. Damit würden die ganzen unseligen Debatten über Eurobonds oder eine Aufweichung des Fiskalpakts wieder mit neuem Leben gefüllt. All das wird von Deutschland und Bayern mit Recht strikt abgelehnt.

Mit dem Austritt Großbritanniens würde sich auch die strukturelle Statik des europäischen Hauses massiv verschlechtern. Die EU wäre mit einem Schlag um über 60 Millionen Einwohner oder ein Achtel ihrer Gesamtbevölkerung ärmer. Deutschland würde ohne sein Zutun in der EU wirtschaftlich und politisch noch dominanter. Die bei vielen kleineren Staaten tief sitzende Angst vor einem übermächtigen Deutschland würde von interessierten Kreisen neu angefacht werden und das gemeinsame Agieren Europas noch beschwerlicher machen. Und Deutschland würde ohne Großbritannien in Europa als nahezu einziges Land mit einer ordnungspolitisch tief verankerten marktwirtschaftlichen Prägung dastehen.

Großbritannien ist aber auch sicherheitspolitischen Gründen für Deutschland und Europa von zentraler Bedeutung. Als Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verkörpert das Vereinigte Königreich neben den Franzosen einen Großteil des sicherheitspolitischen Gewichts Europas. Ein Verlust dieses Gewichts würde Europa außen- und verteidigungspolitisch weiter schwächen.

Schließlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und Europa in Mitleidenschaft gezogen werden. Das würde beide Seiten beschädigen, besonders aber den Exportweltmeister Deutschland. Großbritannien liegt auf Platz drei der wichtigsten Handelspartner Deutschlands, während Deutschland nach den USA für die Briten an zweiter Stelle liegt. Die deutschen Direktinvestitionen in Großbritannien lagen 2014 bei etwa 121 Mrd. Euro, die britischen Direktinvestitionen in Deutschland bei 49 Mrd. Euro. Das zeigt die herausragende Bedeutung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, bei deren Gefährdung viele deutsche und natürlich auch britische Arbeitsplätze bedroht wären.

 

Das angekündigte Referendum ist ein Weckruf für die ganze Europäische Union.

 

Was ist zu tun? Europa muss sich ändern. Es geht nicht nur um punktuelle Vorschläge, mit deren Hilfe Großbritannien zum Verbleib bewegt werden soll. Das angekündigte Referendum ist ein Weckruf für die ganze Europäische Union. Die EU muss ihr Fundament auf sicheren Grund stellen, unabhängig davon, ob das Vereinigte Königreich in der EU bleibt oder nicht. Ein „business as usual“ darf es nicht geben. Wir brauchen einen neuen Realismus, eine neue Sachlichkeit. Wir müssen uns von der Utopie verabschieden, dass Europa in der Globalisierung ausschließlich als die „Vereinigten Staaten von Europa“ überlebenswert und überlebensfähig ist. Eine „ever closer union“, eine immer enger zusammenwachsende Union, stößt heute nicht nur in Großbritannien, sondern in vielen Ländern auf Vorbehalte. Wer Realist ist weiß, dass Europa auf lange Sicht eine Vereinigung souveräner Staaten bleiben wird, die auf denjenigen Gebieten zusammenarbeiten, die auch einen nationalen Mehrwert bringen. Die Zukunft Europas liegt nicht in einem Bundesstaat, sondern in einem freiwilligen Zusammenschluss souveräner Nationen, der eben nicht die Summe seiner Teile ist, sondern darüber hinaus zusätzlichen Nutzen stiftet. Das trüge auch dem Bedürfnis der Menschen nach transparenter Politik Rechnung: Je höher die politische Ebene ist, umso undurchsichtiger sind die bürokratischen Prozesse. Das Entstehen bundes-, landes- oder kommunalpolitischer Beschlüsse ist für den Bürger viel überschaubarer und beeinflussbarer als das beispielsweise das Zustandekommen einer europäischen Verordnung.

 

Starke Nationalstaaten in einem starken Europa wären auch für Deutschland nicht das Schlechteste.

 

Diese Überlegungen schließen sowohl eine planlose Erweiterung der EU – etwa um die Türkei – als auch eine undifferenzierte Vertiefung aus. Die Behauptung, Vertiefung und Erweiterung seien gleichzeitig und unabhängig voneinander möglich, ist durch die Realität widerlegt worden. Dass beides eben nicht Hand in Hand geht, zeigen gerade die völlig unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten in der Flüchtlingsfrage. Die faktische Bindekraft der Nation ist nach wie vor groß und steht auch nicht im Gegensatz zu einer vernünftig gedachten Europäischen Union. Ich meine: starke Nationalstaaten in einem starken Europa wären auch für Deutschland nicht das Schlechteste.

 

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